Zeitzeugen Matrosen– und Arbeiteraufstand 1918/1919

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Die folgende Zusammenstellung basiert auf der Sammlung von Klaus Kuhl und wird in nächster Zeit von ihm von seiner Webseite kurkuhl.de hierher übertragen. Dabei werden Ergänzungen vorgenommen und die Interviews, Manuskripte, Auszüge aus der Literatur etc. werden übersichtlicher präsentiert.[A 1]

Anführer des Aufstands

Lothar Popp

Passfoto Lothar Popps aus dem Hamburger Staatsarchiv, aufgenommen vermutlich Mitte der 1920er Jahre.

Lothar Popp (1887–1980) war als Schlosser dienstverpflichtet auf der Germania-Werft. Er schrieb seine Erlebnisse zusammen mit Karl Artelt bereits im Dezember 1918 auf.[1] Unter den Nazis musste er das Land verlassen. Nach seiner Rückkehr aus den USA stellte er sich bereitwillig für Gespräche und Interviews zur Verfügung: Gespräche mit Volker Ullrich (1970 und 1972), Gespräch mit Dirk Dähnhardt (1975), Interviews vom WDR und NDR, Interview von Ute Kohrs (1976), Interview geführt von Klaus Kuhl (1978), Gespräch mit Bernd Michels für das „Sozialdemokrat Magazin“ (1978), Interview geführt von Christian Blöss (1978). Alle bisher bekannten Gespräche, Berichte und Interviews sind im Anhang des Mitschnitts des von Klaus Kuhl geführten Interviews („Streitgespräch mit einem 68er“) wiedergegeben (Link siehe unten).

Auszüge aus dem von Klaus Kuhl geführten Interview:

Am 28. Oktober 1918 erhielt die Hochseeflotte den Befehl zum Auslaufen. Die Matrosen nahmen gewiss zu recht an, dass die Flotte in einem letzten Verzweiflungskampf lieber untergehen sollte als in den Waffenstillstandsverhandlungen mit den Alliierten ausgeliefert zu werden. Die Heizer rissen die Feuer heraus und verhinderten so das Auslaufen der Schiffe. Abordnungen der Matrosen erklärten, sie seien bereit, die Küste gegen einen Angriff zu verteidigen, aber sich sinnlos einem sicheren Untergang preiszugeben, dazu seien sie nicht bereit. Cirka 800 Mann wurden festgenommen ....[A 2]
Da den Matrosen [in Kiel] jede Versammlung verboten wurde, begannen sie zu demonstrieren. Um fünf Uhr nachmittags (am 3. November 1918) versammelten sich etwa zehntausend Matrosen und einige tausend Arbeiter, zogen zunächst zur "Waldwiese" und holten die dort Gefangenen heraus; wobei sich eine erhebliche Anzahl bewaffnete.
Der Zug bewegte sich dann zur Militärstrafanstalt in der Feldstraße. Marineinfanterie, die den Zug aufhalten sollte, weigerte sich. Jedoch an der Feldstraße gab es einen Zusammenstoß mit einer Gruppe, die als Applikanten und Maaten extra zusammengestellt war. Es gab acht Tote und zwanzig Verwundete.[A 3] Doch die Bewegung war nicht mehr aufzuhalten. Immer mehr Einheiten schlossen sich der Bewegung an. Es wurden Soldatenräte gegründet.
In jeder Kaserne wurde extra Revolution gemacht, auf jedem Schiff extra. Auf einem Schiff haben sie mich geholt. Die kamen an, ich soll mit an Bord kommen. Wenn ich mir das heute so überlege, ich steige in so ein Boot, kommt der nächste Offizier und knallt dich über den Haufen. Ist ja toll, dass das damals nicht passiert ist. Sie müssen sich vorstellen, ich klettere nun an Bord, haben ein paar mich geholt, und dann sage ich zu dem Kommandanten, er soll alles antreten lassen, und der macht das! War auf der "Bayern", war ein großes Schiff. Ich halte einen Speech, die ziehen die Rote Fahne hoch und damit hat sich das. (In einem anderen Interview bemerkte Popp dazu: ... ich habe hinterher noch mit dem Kommandanten gesprochen, der hatte selber die „Schnauze voll“).
Kuhl: Der Noske ist doch gekommen, um die Revolution praktisch abzuwürgen. (Popp: Ja das ist ihm nicht gelungen.), aber wieso wird er dann in den Vorsitz des Soldatenrats gewählt?
Popp: Ja, wer war denn der Soldatenrat, die kannten einander ja kaum. Das waren doch keine von vornherein politisch ausgerichteten Leute. Ich habe dann noch den Fehler gemacht, da war ein Soldat dabei, den ich persönlich kannte. Den habe ich gerufen, den haben sie dann mitgewählt. Das war mit die grösste Dummheit, die es gab. das war ein schauerliches Mannsbild. Wir kannten einander ja kaum. Da war doch keine Rede davon. Ich weiß gar nicht, wie viele Soldatenräte es damals gab. Da in der Ecke wählten sie einen, da einen, da einen. Die richtigen Soldatenräte, das organisatorische, das gab’s doch erst, nachdem ich das organisiert hatte. Das waren doch wilde Geschichten. Kuhl: Haben Sie nicht versucht, zu verhindern, dass Noske gewählt wurde? Popp: Ja, warum denn? Ja, ich konnte doch die SPD nicht ausschalten! Hören Sie doch mal zu! Nun gehen Sie mal, wenn Sie einer sind, und die anderen sind zehn, wollen Sie die ausschalten die zehn? Wie machen Sie das? Kuhl: Man kann es doch auf alle Fälle versuchen. Popp: Nee, das ist ja putschen Menschenskind!

Zum vollständigen Dokument mit allen weiteren bisher bekannten Aussagen im Anhang (PDF): Datei:Kuhl streitgespraech-m-l-popp 1978 plus-weitere-interv-u-gespraeche.pdf.

Karl Artelt

Karl Artelt, I. Werftdivision, links, (Ausschnittsvergrößerung rechts), gemeinsam mit Kameraden der I. Torpedo-Division in Kiel-Wik, September 1914

Karl Artelt (1890–1981) kam aus einem Dorf in der Nähe von Magdeburg. Er war Maschinenschlosser und diente zunächst in der I. Werft-Division und dann in der I. Torpedo-Division in Kiel Wik. Er war wie Popp Mitglied der USPD. Zusammen mit ihm schrieb er die o. g. Broschüre, wozu er hauptsächlich die Ereignisse in der Wik, sowie die erste Verhandlungsrunde beim Gouverneur beitrug. Er war ein ausgesprochen mutiger Mensch und hatte maßgeblich Anteil daran, dass die Marineangehörigen in der Wik die Offiziere entmachteten. Er wurde zum Vorsitzenden des ersten Soldatenrats in der Wik gewählt. Während Popp auch später in etwa bei den in ihrer Broschüre niedergelegten Darstellungen blieb, stellte Artelt die Ereignisse in der Folgezeit immer dramatischer und seine eigene Rolle als immer wichtiger dar. Im Jahr 1958 veröffentlichte er einen Artikel[2] in einem Sammelband mit Erlebnisberichten aktiver Teilnehmer der Novemberrevolution.

Auszüge:

Vor dem Kaiser-Cafe empfing uns plötzlich MG-Feuer.[A 4] Unser Demonstrationszug stoppte. Als wir feststellten, daß niemand getroffen worden war, gingen wir weiter. Daraufhin schossen die MG-Schützen direkt in unseren Zug hinein. Vierzig bis fünfzig Demonstranten, darunter auch Frauen und Kinder, brachen unter den Kugeln zusammen. Acht von ihnen wurden getötet und 29 schwer verletzt.[A 5]
Durch die Massen ging ein Schrei der Entrüstung und des Protestes. Nachdem die Mörder, die unter dem Kommando des Leutnants Steinhäuser standen, ... nicht bereit waren, das Feuer einzustellen, sprang ein Matrose ... vor und schlug den Leutnant Steinhäuser mit dem Gewehrkolben nieder. ...Junge Matrosen und Arbeiter stürmten die Stellung der Maschinengewehrschützen und schlugen sie in die Flucht.
Am anderen Morgen (4.11.1918, Klaus Kuhl) mußten alle Truppenteile in Kiel zum Appell antreten. ... Nach den üblichen Meldungen bestieg der Divisionskommandeur, Kapitän zur See Bartels, einen bereitgestellten Tisch und hielt eine Ansprache ... Er schilderte die gestrigen Vorkommnisse, sagte auch, dass die Luft mit Hochspannung geladen sei, dass aber ein Soldat sich nicht mit Politik zu befassen habe, da er von Politik nichts verstünde. Nachdem er den Tisch verlassen hatte, ... Kurz entschlossen sprang ich hinauf, hielt ebenfalls eine kurze Ansprache und forderte die Matrosen zur Wahl von Soldatenräten auf. Offiziere, die mich vom Tisch herunterzuschiessen versuchten, wurden von Matrosenfäusten rücksichtslos entwaffnet.[A 6] Anschliessend stürmten wir unsere Waffenkammern und wählten in allen Kompanien Soldatenräte. Ich wurde zum Vorsitzenden des Soldatenrates gewählt.
Nach kurzer Zeit erhielten wir die Meldung, dass ich sofort zum Gouverneur kommen möchte. Wir machten ein Auto klar, holten von einem Torpedoboot eine große rote Fahne, die größer als das Auto war, und bereiteten die Abfahrt vor. Als wir das Zimmer des Gouverneurs betraten, merkte ich, wie dieser sich förmlich zwingen mußte, mit uns zu unterhandeln. ... Er kam uns entgegen und sagte: "Ich danke Ihnen, dass sie die Courage aufgebracht haben, herzukommen." Bevor wir in Verhandlungen mit ihm eintraten, fragte ich ihn, ob er uns als die von den Soldaten gewählten Vertrauensleute anerkenne und auf gleichberechtigter Basis mit uns verhandeln würde. Angesichts der realen Tatsachen antwortete er gezwungenermaßen mit "Ja". Ich erklärte ihm nunmehr, dass wir zunächst die Fragen klären müßten, die in seinem Machtbereich liegen. Gleichzeitig warnte ich ihn jedoch .... Landtruppen gegen die revolutionären Matrosen einzusetzen. In diesem Falle hätte das III. Geschwader die Anweisung, das Offiziersvillenviertel Düsternbrook unter Feuer zu nehmen und alles in Schutt und Asche zu legen. ... gab er sofort in meiner Gegenwart die Erklärung ab, keine auswärtigen Truppen heranzuziehen und die schon auf dem Transport befindlichen ... zurückzuschicken. Außerdem teilte er uns noch mit, dass der Abgeordnete Noske und Staatssekretär Haußmann nach Kiel kommen würden, um mit uns weiter zu verhandeln.
Zur Frage warum Noske in Kiel relativ freie Hand erhielt, nahm Artelt in den 1960er Jahren auf Fragen von Angehörigen der Volksmarine wie folgt Stellung (nach Robert Rosentreter, "Blaujacken im Novembersturm", Dietz Verlag, 1988, S. 250 f.): Karl Artelt hat auf diesbezügliche Fragen von Angehörigen der Volksmarine immer wieder betont, dass ihm und anderen Genossen die Rolle Noskes durch dessen Verhalten erst nach und nach bewußt geworden wäre. Artelt selbst und andere ... hätten zwar gewußt, dass Noske zu den rechten Kräften in der Partei gehörte, ihn aber doch immerhin als sozialistischen Parteifunktionär angesehen und gehofft, dass er in der Revolution eine den Arbeitern nützliche Politik machen würde, keineswegs hätte jemals jemand gedacht, dass er bereit sein könnte, auf Arbeiter schießen zu lassen ....


Mannschaftsangehörige Marine, untere Dienstgrade

Karl/Carl Bock

Karl (später Carl) Bock (*ca. 1895) kam vermutlich aus Berlin und war Matrose auf „Markgraf“. Er schrieb im November 1918 einen Brief an seine Schwester. Im Jahr 1957 erstellte er außerdem einen schriftlichen Bericht über seine Erlebnisse auf Anforderung der SED.

Auszüge:

Es war einstimmig beschlossen worden, keinen Vorstoß zu machen, das hatten wir durchgesetzt. Am anderen Mittag fuhren wir nach Kiel. Auf der Fahrt hatten wir die vollen Beweise, daß doch etwas geplant war. So liegen wir jetzt im Kieler Hafen. Übrigens kam eine Verfügung vom Flottenchef, die besagte, daß unsere Beunruhigung jeder Grundlage entbehre. Heute haben sie in aller Heimlichkeit 80 Mann wie die schwersten Verbrecher an Land gebracht, so daß wir es leider zu spät erfuhren, schon jetzt in Untersuchung. Zu uns sagten die Offiziere, abkommandiert nach den Außenforts, wegen zu lange an Bord. Das wird wohl nicht so vorüber gehen, die Sache kommt sicher vor den Reichstag. Man kann hier allerhand erwarten. Also wundere Dich nicht, wenn mir etwas gleichartiges passiert. Jedenfalls kämpfen wir für den Frieden, für unser Leben, und wollen keinen Heldentod. Solche Vorgänge hat die Flotte noch nicht gesehen.

Zu den vollständigen Dokumenten, die auch die Diskussionen unter den Mannschaften und mit den Offizieren enthält, als das III. Geschwader nach Travemünde weiterfuhr und dort vor Anker ging, sowie einen Vergleich mit den Aussagen des Wachoffiziers Karl von Kunowski und des 1. Offiziers Wilfried von Loewenfeld (PDF): Datei:Bock brief-bericht 1918-1957 plus-anhang.pdf.


Wilhelm Kleineweber

Kleineweber (*1900) war Rekrut bei der I. Torpedo-Division in Kiel Wik. Er gehörte der Patrouille an, die unter Führung von Leutnant Steinhäuser am 3. November auf die Demonstranten schoss. Er war dann für viele Jahre bei der Polizei, lebte in Eckernförde und wurde als Polizeihauptmann pensioniert. Er gab der Eckernförder Zeitung 1969 ein Interview, ebenso dem NDR (vermutlich Ende der 1970er Jahre) und es fanden zwei Gespräche mit Dirk Dähnhardt statt (Mitte und Ende der 1970er Jahre).

Auszüge:

Und so marschierten wir in die Feldstraße und zwar bis zum langen Segen, ... Und da war eine Kette gezogen von Schutzleuten, Schutzleuten von der blauen Schutzmannschaft in Kiel. ... Wie der Zug nun kam, wurden die Schutzleute sofort blitzartig aufgerieben und die türmten in den Langen See hinein. Und dann ging der Leutnant Steinhäuser vor uns vorweg zu der Spitze des Zuges, das war ein unheimlich langer Zug gewesen, man sprach von 20.000 Mann. ... Und dann ging der Leutnant Steinhäuser vorweg und mahnte, sie sollten vorsichtig sein, sie sollten zurückgehen und sofort und so weiter und dann ist ein Schuss gefallen. Woher der Schuss gekommen ist, kann ich Ihnen nicht sagen, man hat einmal festgestellt, der Schuss soll von uns aus gekommen sein. Ich kann es nicht bestreiten, ich glaube es aber nicht. Ich glaube eher, dass er aus der Menge gekommen ist, die waren ja alle bewaffnet schon.[A 7] Jedenfalls wurden wir überrumpelt. Der Leutnant Steinhäuser kriegte, soweit ich das mitbekommen habe, einen mit dem Kolben über den Schädel und er wurde dann in dieses Lokal neben dem Stadtcafe hineingeschleppt und wir waren der Meinung, sie hätten ihn totgeschlagen.

Zum vollständigen Dokument, mit den genannten Interviews und Berichten inklusive eines Kommentars von Klaus Kuhl (PDF): Datei:Kleineweber interviews 1960er-und-70er-jahre.pdf.

Alfred Schwabe

Alfred Schwabe 1923, zur Verfügung gestellt von Gerd Kassner, der Alfred Schwabe noch persönlich gekannt hatte.

Alfred Schwabe (1892–1973) war U-Boot Fahrer und nahm im November 1918 an einem U-Bootslehrgang in der Uboot-Division in Kiel-Wik teil. Er wurde von Offizieren mit seinen Kameraden herangezogen, die Aufständischen in der Wik zu bekämpfen. Er verfasste darüber vermutlich in den 1950er/60er Jahren einen schriftlichen Bericht, wahrscheinlich auf Anforderung der SED. Er wurde jedoch nicht veröffentlicht oder archiviert und gelangte über die Familie Artelt (Schwabe hatte ihn Karl Artelt zur Verfügung gestellt) an Klaus Kuhl.

Auszüge:

Als ich mit Matrosen der grossen Schlachtschiffe, der Kreuzer und der immer in See stehenden Torpedoboote bekannt wurde, spürte ich dass dort ein anderer Wind wehte, als auf unserem U-Boot. Bei uns war des ganze Boot auf jeden Einzelnen angewiesen, von Offiziersdrill war nichts zu spüren. Aber das furchtbare Völkermorden hatten wir trotzdem satt, die Sehnsucht nach Frieden war vorherrschend. Als ich auf Urlaub kam, kannte ich meine Eltern kaum noch, so abgemagert und verbissen waren sie, und wir versenkten im Mittelmeer Schiffe und wieder Schiffe, gefüllt mit Lebensmitteln aus Amerika. ... Am Morgen ... erhielt unser Lehrgang, es waren gegen 40 Maate und 10 Obermatrosen, Pistolen und Munition ausgehändigt. Wir marschierten nach der Werftdivision Kiel - Wik. ... Wir marschierten diagonal über den Exerzierplatz. An der rechten Ecke am Hafen standen 150 - 200 Matrosen bei einer Versammlung. Wir wurden in die Turnhalle geführt. Ein junger Leutnant hatte das Kommando und hielt eine Ansprache. Heldentum und Treue zu den Offizieren, Kampf gegen die Meuterer war der Inhalt. ... Minuten war es kirchenstill. Plötzlich ein Gebrüll von weit her, aber es kam näher und näher. "Achtung, Ächtung! Pistolen laden und sichern!“ Im Flüsterton bei den Obermatrosen: "wir schiessen nicht, wir schiessen nicht“. Gegenzug rechts! Marsch! Zur Turnhalle hinaus!“ Wir Obermatrosen waren am Schluss des Zuges und somit den anstürmenden teils bewaffneten Matrosen am nächsten. Es waren die, welche die Versammlung auf dem Exerzierplatz durchführten. Etwa 10 mtr vor der Menge liefen 2 Matrosen und riefen uns zu: "Kameraden werft die Waffen weg oder kommt mit den Waffen zu uns, schiesst nicht auf Eure Kameraden. Nieder mit dem Krieg! Nieder mit den Kriegsphantasten!“ Achtung! Achtung! Feuer, brüllte unser Leutnant. Eine Anzahl Schüsse fielen, aber ich habe nicht gesehen, dass einer getroffen war. Ich war nicht einen Moment unschlüssig; schon zogen wir die anderen zu uns herüber bezw. hinüber. „Los rüber, Schiet op den Krieg! Ein Teil der Maate schloss sich an. Es fielen wieder Schüsse von unserem linken Flügel der Maate oder dem Leutnant; denn 2 übergelaufene Maate waren getroffen und wurden fortgetragen. Der Leutnant war aber plötzlich spurlos von der Bildfläche verschwunden und hat nie wieder in Kiel unseren Bug gekreuzt. Wir, der verstärkte Haufen, rannten nun in die Kasernenblocks, riefen den Matrosen unsere Parolen zu und forderten sie auf, uns zu folgen. Viele schlossen sich an, ein Teil verhielt sich passiv. Offiziere waren eigentlich wenig da und die anwesenden wurden teils mit Güte, teils mit Gewalt, abgetakelt, d. h. die Epauletten und die Kokarden abgemacht. Und so ging es etwa 15 Häuserblocks durch, der Haufen wurde immer grösser und grösser. Leider waren aber auch schon die Räuber am Werk; denn aus den Kleiderkammern und Magazinen stürzten gefüllte Seesäcke aus den oberen Etagen und wurden fortgeschleppt. Aber das liess uns z.Z. kalt. Wir stürmten weiter. Nachdem alle Kasernenbauten abgekämmt waren, eilten wir an die Hafenmole. Zwei Torpedoboote wurden durch Schüsse und Zurufe aufgefordert die rote Flagge zu hissen. Es waren die ersten Schiffe, welche in Kiel die rote Flagge am Mast hochzogen. Leider sind mir die Nummern entfallen. Viele Boote folgten; Pinassen fuhren mit roter Heckflagge zu den dicken Kasten und forderten sie auf sich uns anzuschliessen. Starkbesetzte Boote brachten immer mehr revolutionäre Truppen an Land. Mein Wohnschiff, der älteste Kasten der Marine SMS "Mars“ (Bordwände aus Holz) hatte 1866 gegen die Dänen mitgekämpft, setzte sich lange zur Wehr. 2 rote Matrosen mit weisser Parlamentärflagge wurden zum Verhandeln an Bord geschickt und erreichten, dass doch eindrucksvoll die Kriegsflagge gestrichen wurde und die rote Flagge am Mast hochging. Ein grosser Teil der Matrosen zog durch die Strassen von Kiel und es erfolgte eine systematische Entwaffnung der Offiziere. Das Abtackeln war manchen Matrosen eine wahre Wollust, konnten sie sich doch für Drill und Erniedrigungen rächen.

Zum vollständigen übertragenen und kommentierten Dokument (PDF): Datei:Schwabe manuskript 1950-60.pdf.



Marineoffiziere

Kapitänleutnant Max Wittmer

Max Wittmer (*1884 in Kiel, +1979) war Torpedobootskommandant und im ersten Weltkrieg Lehrer an der Ingenieur und Deckoffizierschule in Kiel-Wik, später wurde er Handelsagent. Er wurde im Jahr 1975 von Karl-Reinhard Titzek und Tilmann Weiherich interviewt. Drei Jahre später wurde er von Dirk Dähnhardt befragt.

Auszüge:

Im Eilmarsch zog er mit seiner Patrouille dem Demonstrationszug hinterher. Bevor er die Kreuzung Karl-, Brunswickerstr. erreicht hatte, hörte er Schüsse. Ein großes Durcheinander erblickte er am Ort des Geschehens. Da seine Leute überrannt zu werden drohten, ließ er Warnschüsse abfeuern. Als auch diese keine Wirkung zeigten, ließ er auf die Beine zielen. Das sei der schwerste Befehl seines Lebens gewesen, berichtete Herr Wittmer. Nach den Schüssen war aber die Straße wie leergefegt. Nur einige Frauen schimpften auf die Männer, was für Feiglinge sie seien. Noch einmal ließ Herr Wittmer einen Warnschuß feuern, dann endlich herrschte Ruhe.
Anmerkung Kuhl: Eine genauere Analyse ergab, dass Wittmer wohl hauptsächlich die Erlebnisse anderer Offiziere wiedergibt. In einigen Fällen offenbaren die archivierten Berichte anderer Offiziere und die Lazarettlisten einen wahren Kern in Wittmers Schilderungen. Insofern gibt es gewisse gegenseitige Bestätigungen, die immerhin ein wenig zur Erhellung der Vorgänge beitragen. Insbesondere könnte am 3. November 1918 abends tatsächlich eine nachrückende Einheit der Deckoffizierschule auf die Füße und Beine der Demonstranten geschossen haben, um diese auseinanderzutreiben.

Zu den vollständigen übertragenen und kommentierten Dokumenten einschließlich einer Quellenanalyse (PDF): Datei:Wittmer interviews 1975-78 analyse.pdf.


ArbeiterInnen

Gertrud Völcker

Gertrud Völcker 1950, Foto StAK/Nafzger.

Gertrud Völcker (1896–1979) war damals Angestellte im Arbeiter-Sekretariat der Freien Gewerkschaften in Kiel. Sie war seit 1915 Mitglied der Sozialistischen Arbeiterjugend. Später wurde sie Vorsitzende der Arbeiter Wohlfahrt (AWO) in Schleswig-Holstein. Im Jahr 1975 gab sie Karl-Reinhard Titzek und Tilmann Weiherich ein Interview, und vermutlich im selben Jahr wurde sich auch von Ute Kohrs interviewt. Dabei gewährte sie auch Einblick in ihr Tagebuch und es wurden Abschriften vorgenommen.

Auszüge:

Die USPD hatte ganz bedeutende Führer – die SPD auch – aber die (USPD) waren konsequenter. Ich bin nie USPD gewesen. Die waren – wenn man heute zurückdenkt – haben sie doch sehr viel recht gehabt. Man hätte sich in Verhandlungen anders verhalten müssen. Aber es ist ja leicht gesagt: Im Augenblick musste gehandelt werden und das Gebot der Rettung des Vaterlandes stand im Vordergrund. Das war das Leitmotiv der Sozialdemokraten. Und die USPD, der Lothar [Popp] war USPD-Mann, das waren gute Männer, das waren keine Radauleute.
Es war eine mutige Tat von ordentlichen Deutschen, die das Land nicht in einer noch größeren Krise haben wollten. Es waren ruhige Leute, es waren außerordentlich nette, bewusste und kluge Leute, die nachgedacht hatten. So seh ich die Jungens heute. Es war eine mutige Tat, die Zivilcourage erforderte, eine Revolte, keine Meuterei, und auch keine Revolution.

Zum vollständigen Dokument mit den Interviews, Auszügen aus ihrem Tagebuch und einer kurzen Biografie (PDF): Datei:Voelcker interviews 1970er tagebuch.pdf.



Anmerkungen

  1. Stand 19. Januar 2022 wurden sieben Berichte/Interviews von insgesamt 37 übertragen. Die anderen Zeitzeugnisse werden in den nächsten Wochen übertragen, aber können nach wie vor unter [1] angesehen werden.
  2. Popp merkte an, dass die Gefangenen nach Kiel gebracht worden seien. Nach den Recherchen Dähnhardts (Revolution in Kiel, 1978, S. 109) waren die vor Wilhelmshaven Verhafteten in eine Haftanstalt in Bremen-Oslebshausen gebracht worden und waren nach dem Matrosenaufstand von Kieler Matrosen befreit worden. Dabei stützt er sich auf Veröffentlichungen von Peter Kuckuk und Ulrich Kluge. Nach Kiel wurden die während der Fahrt durch den Nord-Ostsee-Kanal verhafteten 48 „Rädelsführer“ gebracht, sowie am Morgen des 3. November weitere 57 Verhaftete der „Markgraf“.
  3. Nach den Untersuchungen Dähnhardts gab es 7 Tote bei der Schießerei. Es waren keine Frauen und Kinder unter den Opfern. Eine Frau war kurze Zeit vorher im Verlauf des Demonstrationszuges unter eine Straßenbahn geraten und gestorben. Zwei verwundete Personen starben später. Damit kamen insgesamt 10 Personen im Rahmen der Ereignisse des 3. November ums Leben.
  4. Nach zeitnahen Berichten und Aktennotizen ist hier kein MG eingesetzt worden.
  5. Es gab sieben Tote und 29 Verletzte, darunter waren keine Frauen oder Kinder.
  6. Auch hier handelt es sich um eine spätere Ausschmückung Artelts.
  7. Nach der detaillierten Analyse der Vorgänge gab Steinhäuser Feuerbefehl, wobei die Rekruten fast alle in die Luft schossen. Nach nochmaligem Feuerbefehl schossen sie in Panik auf die erneut anstürmenden Demonstranten und flohen dann, wobei Steinhäuser allein zurückblieb. Ein Polizeimeister und der in der Nähe weilende Marineoffizier Karl Weiß kamen ihm zu Hilfe. Alle drei wurden schwer verletzt.

Einzelnachweise

  1. Lothar Popp unter Mitarbeit von Karl Artelt: Ursprung und Entwicklung der November-Revolution 1918. Wie die deutsche Republik entstand. Behrens, Kiel 1919, Reprint als Sonderveröffentlichung 15 der Gesellschaft für Kieler Stadtgeschichte, Kiel 1983. Im Jahr 2020 leicht gekürzt und von Klaus Kuhl kommentiert veröffentlicht in: IG Metall Bezirksleitung Küste (Hrsg.): Matrosenaufstand und Novemberrevolution 1918. Hamburg 2020, S. 96-115, ISBN 978-3-96488-063-5.
  2. Karl Artelt: Mit der roten Fahne zum Vizeadmiral Souchon [Souchon war im August 1918 bereits zum Admiral befördert worden]. In: Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED: Vorwärts und nicht vergessen – Erlebnisberichte aktiver Teilnehmer der Novemberrevolution 1918/1919. Berlin 1958, S. 89–100.